Konturen einer "Nicht-Philosphie" – Zur Neuaneignung des marxistischen Philosophen Louis Althusser (in: Das Argument, Nr. 223, 1997)

In den letzten Jahren ist eine Reihe von Sonderheften und Sammelbänden erschienen, die sich mit der theoretischen Arbeit des französischen Philosophen Louis Althusser auseinandersetzen. Nach dem Ende des Realsozialismus und der Durchsetzung eines "globalen Kapitalismus" mehren sich die Versuche ausgehend von einer kritischen Reflexion der Analyseinstrumente und Begriffe Althussers, »die Grenzen des Marxismus (zu) ‘überdenken’« (Böke/Müller/Reinfeldt). Die theoretische und politische Attraktivität der Philosophie Althussers für ein solches Unternehmen liegt in seiner Konzeption des Marxismus als einer prinzipiell offenen und umkämpften Diskursformation jenseits von dogmatischer Tradition und hermeneutischer Rekonstruktion. Eine solche Position erfordert nicht nur die permanente (selbst-)kritische Überprüfung der eigenen Theorie, sondern stellt auch die zentrale Bedeutung ideologischer Faktoren für die Analyse der gesellschaftlichen Reproduktion heraus.

Zu dieser Neuaneignung Althussers hat - neben der Wiederauflage seiner vergriffenen Bücher Für Marx und Das Kapital lesen - die Herausgabe der Texte aus dem Nachlaß entscheidend beigetragen. Der Nachlaß Althussers ist heute im Institut Mémoires de l’Édition Contemporaine (IMEC) untergebracht, einem der wichtigsten Dokumentationszentren für das intellektuelle und kulturelle Leben Frankreichs im 20. Jahrhundert. In seinem Hauptsitz in der Rue de Lille im 7. Pariser Arrondissement lagern nicht nur bedeutende Verlags- und Zeitschriftenarchive, sondern auch eine große Anzahl von AutorInnenfonds. Insgesamt verwaltet das IMEC mehr als 150 Archive. Es beherbergt unter anderem die Nachlässe von Philosophen, Sozialwissenschaftlern und Historikern wie Roland Barthes, François Châtelet, Félix Guattari und Lucien Febvre (demnächst kommt der Nachlaß Michel Foucaults hinzu) und die schriftlichen Aufzeichnungen, Notizen und Manuskripte der SchriftstellerInnen Albert Camus, Marguerite Duras und Samuel Beckett.

Als François Boddaert, der Neffe und Erbe Althussers 1991 - ein Jahr nach dessen Tod - dem Institut die etwa 40000 bis 50000 Seiten an schriftlichem Material anvertraute, bestand der Schwerpunkt der Aktivität in der Sichtung und Inventarisierung der Texte, die insgesamt umfangreicher sind als diejenigen, die zu Lebzeiten Althussers erschienen sind. Allein die Inventarliste des Fonds Louis Althusser umfaßt mehrere hundert Seiten und versammelt eine Reihe höchst unterschiedlicher Materialien. Was zunächst die Textdokumente angeht, so enthält das Althusser-Archiv die theoretischen Aufzeichnungen Althussers über philosophiegeschichtliche Probleme, Vorschläge und Pläne für Seminare und Kolloquien, Korrekturen von wissenschaftlichen Referaten, Hausarbeiten und Dissertationen, aber auch eigene literarische Versuche. Politische Texte und Polemiken finden sich neben persönlichen Dokumenten wie Ausweispapieren, Kontoauszügen, Schulheften und Adressbüchern. Althussers Notizen zur Psychoanalyse tragen ebenso eine Inventarnummer wie das psychiatrische Dossier seiner Hospitalisierung und das autobiographische Material. Wer sich für die Aufzeichnungen von Träumen aus dem Sommer 1964 oder das Gedächnisprotokoll eines Treffens Althussers mit dem ehemaligen Parteivorsitzenden der Kommunistischen Partei Frankreichs, Georges Marchais, vom 25. April 1977 interessiert, wird im IMEC ebenso fündig wie diejenigen, deren Neugier eher gewöhnlichen Dokumenten wie Althussers Steuererklärung von 1950 oder der Stromrechnung von 1978 gilt.

Außerdem enthält das Archiv die mehrere tausend Bände umfassende Privatbibliothek Althussers, Photographien und einige Audio- und Videodokumente, in der Regel Bandmitschnitte von Vorlesungen oder Aufzeichnungen von Fernsehsendungen. Eine Reihe von Dissertationen und eine übersichtlich gestaltete Presseschau zu Leben und Werk Althussers vervollständigen die Sammlung. Mit Ausnahme der psychiatrischen Dossiers und der Notizen Althussers über seine Krankheit sind alle Dokumente prinzipiell einsehbar - vorausgesetzt, es läßt sich ein berechtigtes wissenschaftliches Interesse nachweisen. Dabei ist vor allem Briefwechsel Althusser für die zukünftige Forschungsarbeit interessant, da seine Korrespondenz bis auf wenige Ausnahmen nicht in die Ausgabe der posthumen Schriften aufgenommen wurde. Wer sich also etwa für den brieflichen Kontakt Althussers zu Jacques Lacan, Gilles Deleuze, Jacques Derrida interessiert, wird sich nach Paris bemühen müssen.

Die Edition der nachgelassenen Schriften Althusser ist weitgehend abgeschlossen. Als letzter Band wird Anfang 1998 die Korrespondenz Althussers mit der italienischen Philosophin und Lévi-Strauss-Übersetzerin Franca Madonia erscheinen. Den Anfang der Publikationsreihe machten die autobiographischen Texte. Auf L’avenir dure longtemps und die Publikation der Kriegstagebücher, die Althusser in deutscher Gefangenenschaft schrieb, folgten die bisher unveröffentlichten Aufsätze Althussers zur Psychoanalyse und ein Teil seiner Korrespondenz mit Lacan (später ergänzt um zwei weitere Vorlesungen aus dem Jahren 1963/64 über "Psychoanalyse und Humanwissenschaften"). Die beiden Bände der politischen und philosophischen Schriften bieten einen guten Überblick über die Entwicklung und die Vielfalt der theoretischen Interessen Althussers. Das inhaltliche Spektrum reicht von philosophiegeschichtlichen über politische bis zu kunsttheoretischen Artikeln und umfaßt einen Zeitraum von den frühen Arbeiten über Hegel Ende der 40er Jahre bis hin zu seinen Überlegungen zum "aleatorischen Materialismus" in den 80er Jahren.

Bei letzterem handelt es sich um eine wichtige Neubestimmung des Materialismus, die zugleich eine »Kehre« (Toni Negri in Futur antérieur) im Denken des späten Althusser markiert. Althusser greift nicht nur auf neue theoretische Quellen zurück (Demokrit, Epikur, Wittgenstein, Heidegger), die zu den alten und bekannten (Machiavelli, Spinoza, Marx) hinzutreten, sondern organisiert das gesamte theoretische Feld mittels eines neuen Bezugsrahmens: des philosophischen Nominalismus. Seine Kritik richtet sich nunmehr nicht nur gegen jede Form des Idealismus, sondern ebenso gegen einen Materialismus, der nicht konsequent nominalistisch verfährt. Der »aleatorische Materialismus« so wie ihn Althusser konzipiert, lehnt es ab, Geschichten zu erzählen. Er geht nicht von den Gesetzen der Geschichte aus, um dann vom Zusammentreffen von Notwendigkeit und Freiheit, Allgemeinheit und Einzelheit zu berichten, sondern begreift die historischen Gesetze selbst als das Resultat des Zusammentreffens von "Fällen", als Zu-Fälle. Die Gesetze stehen daher nicht außerhalb der Geschichte und strukturieren sie, sondern sie sind immanenter Teil der Geschichte - oder wie Althusser Wittgenstein zustimmend zitiert: »Die Welt ist alles, was der Fall ist«.

Diese letzten Veränderungen von Althussers Denkens sind auch in einer Reihe von Interviews mit der mexikanischen Philosophin Fernanda Navarro präsent, die bereits 1988 in spanischer Übersetzung erschienen. Während der Philosophie in seinen frühen Texten noch die Aufgabe zukam, Wissenschaft und Ideologie rigoros voneinander zu trennen, erkennt Althusser in Sur la philosophie, daß der Anspruch der Philosophie, die Wahrheit zu sagen, selbst problematisch ist. Es reicht daher seiner Ansicht nach nicht aus, die bürgerliche Philosophie mit philosophischen Mittel zu kritisieren, um eine marxistische Philosophie an ihre Stelle treten zu lassen. Entscheidend sei vielmehr - und hierin liegt die wichtige Weiterentwicklung seiner Position -, daß die Philosophie selbst als Teil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung funktioniert, weil sie die Grenzen zieht zwischen dem Richtigen und Falschen, dem Vernünftigen und Wahnsinnigen, dem Normalen und dem Ausgeschlossenen. Die philosophische Kritik ist daher nur dann radikal, wenn sie im Wortsinne an ihre eigenen Wurzeln geht und ihren Gegenstand negiert: »Erinnern wir uns, daß Marx, wenn er an die Form eines zukünftigen Staates dachte, von einem Staat sprach, der ein ‘Nicht-Staat’ wäre, eine völlig neue Form, die ihre eigene Auslöschung betreibt. Wir können dasselbe von der Philosophie sagen: Was Marx suchte, war eine ‘Nicht-Philosophie’«.

Es sind die Konturen dieser »Nicht-Philosophie«, die Althusser - mit philosophischen Mitteln - in seinen letzten Arbeiten zu bestimmen versucht. Mit diesem paradoxen Vorhaben soll der gefährliche Zirkel vermieden werden, daß sich das philosophische Spiel unablässig reproduziert, ein Spiel, das für Althusser weniger ein herrschaftsfreier Diskurs ist als ein »Kampfplatz« (Kant). Während die idealistischen »Philosophen der Philosophie« es unternommen haben, die Welt mit den Mitteln des Denkens zu beherrschen, indem sie alle sozialen Praktiken dem Gesetz der Wahrheit (ihrer Wahrheit) unterworfen haben, geht es der materialistischen Philosophie darum, die allgemeine Natur der Philosophie als singulären "Fall" zu dechiffrieren. Insofern bestünde ihr Erfolg gerade darin, in ihren eigenen Wirkungen zu verschwinden, in den Veränderungen, die sie provoziert: »Was uns angeht, so kann ich Ihnen gestehen, daß wir in der Tat gekommen sind, um ‘auf die Nase zu fallen’. Wir sind gekommen, um in unserer eigenen Intervention zu verschwinden«.
 

    • Louis Althusser: L’avenir dure longtemps. Les Faits, Stock 1992 (dt.: Die Zukunft hat Zeit. Die Tatsachen. Zwei autobiographische Texte, Fischer 1993
    • Louis Althusser: Écrits sur la psychanalyse, Stock/IMEC 1993
    • Louis Althusser: Écrits philosophiques et politiques, Tome I, Stock/IMEC 1994
    • Louis Althusser: Écrits philosophiques et politiques, Tome II, Stock/IMEC 1995
    • Louis Althusser: Sur la philosophie, Gallimard 1994
    • Louis Althusser: Sur la reproduction, PUF 1995
    • Louis Althusser: Psychanalyse et sciences humaines, Le Livre de Poche, 1996
    • Louis Althusser/Étienne Balibar u.a.: Lire le Capital, PUF 1996
    • Louis Althusser: Pour Marx, La Decouverte 1996
    • Lazarus, Sylvain (Hg.): Politique et philosophie dans l’oeuvre de Louis Althusser, PUF 1993
    • Böke, Henning/Müller, Jens Christian/Reinfeldt, Sebastian (Hg.): Denk-Prozesse nach Althusser, Argument 1994
    • Yale French Studies Nr. 88 (1995): Depositions: Althusser, Balibar, Macherey, and the Labor of Reading
    • Magazine littéraire Nr. 304, November 1992: Louis Althusser
    • Futur antérieur: Sur Althusser. Passages, L’Harmattan 1993